Faszination Augenoptik

Warum ich diesen Beruf liebe. Und warum ich ihn nur gegen das Schreiben eintauschen würde.

Veröffentlicht am: 8.10.2021
Autor/in: Ann-Katrin
Lesezeit: Minuten

Stell dir vor, du würdest einen deiner fünf Sinne verlieren. Auf welchen würdest du am ehesten verzichten können? Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten – will ich auf das Sehen, das Hören, das Fühlen, das Schmecken oder gar auf das Riechen verzichten? Für mich wäre es der Horror, wenn ich eines Tages meine Augen öffnen würde und nichts mehr sehen könnte. Leider ist dieses Szenario aufgrund meiner hohen Myopie durchaus realistisch …

Dass ich eines Tages als Augenoptikermeisterin in einem Laden stehen und Brillen verkaufen würde, war nie geplant. Schon früh war mir klar, dass es ein Beruf im naturwissenschaftlichen Bereich werden soll – genaue Vorstellungen hatte ich nie. Zeitgleich träumte ich davon, dass eines Tages auf dem Cover eines Buches mein Name stehen würde. In der Natur gibt es ein Phänomen, dass mein (bisheriges) Leben ganz gut beschreibt: die Entropie. Das größtmögliche Chaos ist der Zustand der geringsten Energie und bringt somit die besten Ergebnisse. Und dennoch baut alles aufeinander auf. Meine erste Ausbildung zur Chemisch-technischen Assistentin absolvierte ich in Stuttgart. Doch ich war nicht bereit für die große, weite Arbeitswelt. Gerade 18 Jahre alt und sehr schüchtern fiel es mir schwer, einen Job zu finden. Über einen Zufall landete ich bei einem traditionellen Augenoptiker – und der physikalische Teil der Naturwissenschaften stand im Vordergrund. Mir gefielen die handwerklichen Tätigkeiten in der Werkstatt und der Kontakt mit unterschiedlichen Menschen tat meinem Selbstbewusstsein gut. Die drei Jahre Ausbildung waren im Nu vorbei und ich zog weiter.

Abwechslungsreicher Beruf

Ich liebe die Abwechslung, die mir der Beruf bringt. Jeden Tag habe ich mit unterschiedlichen Menschen zu tun, die ein gemeinsames Bedürfnis haben: (wieder) besser zu sehen. Glücklicherweise hat sich die Brille zu einem modischen Accessoire entwickelt. Zu meiner Schulzeit wurde ich noch als Brillenschlange beschimpft. Die Zeiten sind vorbei, wenn man sich die heutige Vielfalt der Brillen anschaut. Es gibt so viele tolle Brillen! Manchmal habe ich das Gefühl, dass manche Fassungen auf diesen einen einzigen Kunden warten. Sie passen dann wie die Faust auf das Auge. Meine Aufgabe ist es, genau diese Harmonie zu finden. Durchs Zuhören, was mir die Kund:innen erzählen. Nicht umsonst steht in der Berufsbeschreibung neben dem Handwerk die psychologische Komponente. Insbesondere, wenn die Kund:innen mit der aktuellen Brille nicht zufrieden sind, ist Zuhören der Schlüssel. Ein Gespräch in den letzten Monaten ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Frau Z. kam zu mir und erzählte, sie wolle gern multifokale Kontaktlinsen ausprobieren. Sie bat mich ebenfalls um eine Überprüfung ihrer Dioptrien. Im Messraum meinte sie irgendwann, sie sei ja ein so schwieriger Fall, mit ihr sei es nicht einfach. Meine Verdutzung könnt ihr Euch vorstellen, diesen Eindruck hatte ich nicht von ihr. Leise erzählte sie von der anderen Optikerin, bei der sie vorher war und wie oft diese laut geäußert hatte, dass Frau Z. so ein schwieriger Fall wäre (warum sie das mitgezählt hat, weiß ich bis heute nicht – aber sei es drum). Ich höre gerne zu und liebe Geschichten, egal in welcher Art. Meine Leidenschaft, sie zu schreiben, trägt da seinen (großen) Teil bei. Hier kann ich mich kreativ austoben und aus den vielen Einzelgesprächen eine neue Geschichte zusammensetzen. Kleine Details einarbeiten, die meine Geschichten lebendiger machen.

Nicht nur die Fassung gehört zur Brille, die Gläser sind das Kernstück des Ganzen. Ohne sie würde die Brille nur wenig bringen. Durch die Fortbildung zur Meisterin lernte ich die Refraktion von der Picke auf. Ich finde es faszinierend, wie die Menschen unterschiedlich sensibel auf die Messung reagieren. Wie sich der Visus und die Dioptrien im Laufe der Zeit verändern können und welchen Einfluss Medikamente und andere Veränderungen am Körper auf das Sehen haben. Viele Kund:innen sind überrascht, wie gut sie doch eigentlich sehen können – mit einer neuen Brille. Die Verschlechterung sei zwar bemerkt worden, aber nicht als so gravierend wahrgenommen worden. Stehen die neuen Dioptrien, können die Gläser besprochen werden. Auch hier ist die Vielfalt über die Jahre gewachsen und ich kann den Kund:innen die bestmögliche Versorgung anbieten – wer nutzt nur eine Brille? Sonnenbrille, Arbeitsplatzbrillen, die alltagstaugliche Gleitsichtbrille, eine Sportbrille oder doch nur die Einstärkenbrille – es gibt für jede Situation die richtige Brille. Hier kann ich die technischen Fortschritte der Gläser erläutern und zum Teil auch demonstrieren. Gemeinsam mit den Kund:innen entscheiden wir uns dann für eins davon.

Handwerkliches Können

Du hast ein Pad oder die kleine Schraube, die den Bügel mit dem Mittelteil verbindet, verloren? Kein Problem! In der Werkstatt ersetze ich die fehlenden Teile schnell. Brille ausrichten, wenn sie mal wieder komplett in alle Richtungen verbogen ist (ja, natürlich war das der Wichtel, weil die Brille lag auf dem Nachttisch und morgens war sie verbogen!) und einmal im U-Bad baden lassen gehört auch zum Service. Wie sich die Kund:innen jedes Mal aufs Neue freuen, wenn die Brille wieder sauber ist, zaubert mir immer ein Lächeln auf die Lippen. Es ist einfach putzig. Etwas handwerkliches in der Werkstatt arbeiten erfüllt mich jedes Mal mit Freude. Wie bei Lego: Ich kann aus Einzelteilen ein fertiges Produkt bauen. Einzig die Bohrbrillen sind meine persönliche Hölle (das liegt natürlich nicht daran, dass ich relativ am Anfang meiner Ausbildung ein Glas beim Brille ausrichten zerbrochen habe … den Anschiss vom Chef werde ich nie vergessen). Aber wie das mit der Natur halt so ist: ich verkaufe und richte meistens die wenigen randlosen Brillen bei mir im Laden. Sie will nur meine Toleranz austesten, da bin ich mir sicher! Wie neulich, als mich die Kollegin genervt bat, die metallische Brille einer Kundin anzupassen. Kurz vor Feierabend und die Brille saß leicht krumm. Wir hatten die Fassung ausgetauscht, weil die Padhebel unterschiedlich hoch angelötet waren (sie hatten tatsächlich einen Millimeter Differenz). Mit viel Geduld und parallelen Pads verließ die Kundin 20 Minuten später zufrieden den Laden.

Zähe Stunden beflügeln die Fantasie

An manchen Tagen ziehen sich die Stunden wie Kaugummi. Das liegt nicht nur am Wetter, dass die Menschen entweder drinnen hält (Regentage) oder in sämtlichen Cafés in der Straße hält (Sonnentage). Für mich ist Langeweile und nichts tun können eine große Geduldsprobe. In jedem anderen Job würde ich meine Sachen packen und den Tag beenden. Da ich an die Öffnungszeiten gebunden bin, geht das nicht. Sie variieren nach Laden, sind meistens von 9:00 bis 18 Uhr oder länger. An solchen Tagen putze ich die Brillen durch oder lese in einem der Fachbücher, die unten im Büro stehen. Halbwegs (sinnvoll) die Zeit überbrückt, bis der nächste Kunde im Laden steht – meistens, um seine Brille putzen zu lassen …

Dennoch würde ich um nichts in der Welt meinen Beruf eintauschen – außer für das Schreiben. In den letzten Jahren habe ich neben den Ausbildungen und der Meisterprüfung zahlreiche Kurzgeschichten und drei Schwabenkrimis geschrieben. Zwei davon sind bereits veröffentlicht, der dritte kam im September aus dem Lektorat zurück – mein Traum vom Name auf einem Buchcover hat sich erfüllt. Das Schreiben ist mein kreativer Ausgleich von den vielen täglichen, manchmal anstrengenden, Gesprächen mit den Kund:innen. Aus den einzelnen Worten eine lesbare Geschichte zu zaubern ist wie die Einzelteile der Brille zu einem fertigen Produkt zu bauen. Ich liebe es, mir Geschichten auszudenken. Ich liebe es, Brillen für meine Kund:innen auszusuchen und ihre Freude zu sehen, wenn sie die neue Brille aufsetzen. Meine Leidenschaften ergänzen sich dabei perfekt: Tagsüber verkaufe ich meinen Kund:innen (Lese-) Brillen, damit sie die Geschichten lesen können, die ich Abends im Dunkeln schreibe.