Wir verramschen unseren Beruf

Wozu eine Ausbildung, wenn der Quereinstieg reicht?

Veröffentlicht am: 1.7.2022
Autor/in: Ann-Katrin
Lesezeit: Minuten

In der Augenoptik boomt es und gleichzeitig brennt es lichterloh. Die aus dem Boden sprießenden Filialisten mit ihren ehrgeizigen Plänen, sich in jeder größeren Stadt wie Unkraut zu vermehren, stehen vor einer qualmenden gerodeten Fläche. Händeringend wird Personal gesucht. Ausgebildete Augenoptikerinnen und Augenoptiker sind die kleinen Flämmchen, die kaum aufgeflammt, schon wieder verloschen sind. Sie sind so begehrt, dass sich manch einer auf der Suche durch das Feld verbrennt, denn sie lassen sich nicht immer einfach finden.

Wie schon Johann Gottfried Herder (1744-1803; deutscher Dichter, Übersetzer, Theologe sowie Geschichts- und Kultur-Philosoph der Weimarer Klassik) schrieb: „Was der Frühling nicht säte, kann der Sommer nicht reifen, der Herbst nicht ernten, der Winter nicht genießen.“ Übersetzt heißt das: Ich kann nicht einfach hergehen, die Fläche abbrennen und die Asche liegen lassen, in der Hoffnung, dass sich jemand anderes darum kümmert. Es müssen von allen neue Bäume gepflanzt werden, die wachsen und gedeihen, bis man sie wieder abholzen und für sich nutzen kann.

Die Nachwuchssorgen in der Branche sind seit vielen Jahren bekannt. Der Berufsbildungsbericht 2021/22 vom Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen (ZVA), der alle zwei Jahre den Stand der Dinge in Sachen Aus-, Fort- und Weiterbildung unter die Lupe nimmt, verzeichnet einen Branchen-Rekordwert von 7.654 Auszubildenden. Dennoch reicht diese Zahl nicht, um den immensen Fachkräftemangel zu löschen. Nicht nur, weil ein Teil der Samen nicht auf der gerodeten Fläche liegen bleibt, sondern vom Wind in alle Richtungen verweht wird. Manche gehen erst gar nicht auf. Jeder zweite Auszubildende sieht seine Zukunft langfristig nicht im Laden und wenige brechen bereits nach den ersten Monaten die Ausbildung ab. Einen exklusiven Einblick in die weiteren Zahlen rund um die Ausbildung liefert der DOZ-Verlag in diesem Artikel.

Die (Not-)Lösung: Quereinsteiger!

Einige haben es bereits erkannt: Die Filialisten und größere Optikketten können ihren hohen Bedarf an Personal nicht über die Branche decken – die Fläche ist schlicht und ergreifend ab gerodet. So sprießen in den letzten Monaten die Stellenanzeigen für „Fachverkäufer Augenoptik“ oder neudeutsch „Sales Advisors“ wie Unkraut aus dem umgepflügten Boden. Frei nach dem Motto: lieber einen Berater mit wenig optischem Hintergrund als die monatelange Dürre nach augenoptischen Fachpersonal zu ertragen. Wie Branchenriese Fielmann es vormacht, werden die Quereinsteiger gedüngt mit Basiswissen zur Optik, etwas anatomischer Anpassung, der Firmenphilosophie und einem Verkaufsleitfaden, an dem sie wie ein junger Strauch an einem Stecken hochwachsen können.

Reicht das Basiswissen, um die hochkomplexe Welt der Optik in wenigen Worten erklären zu können? Überraschenderweise muss ich diese Frage (mittlerweile) mit einem klaren JA beantworten. Für die Masse an Kundschaft, die wenig anspruchsvoll ist und keine Augenerkrankungen oder komplexe Nachfragen hat. Ein bisschen Freude im Umgang mit der Kundschaft und ein Gespür für Mode und typgerechtem Stil reichen aus. Wer ein wenig tiefer in den Dünger eintaucht, dem merkt man nicht sofort an, dass er oder sie keine Ausbildung in der Augenoptik hat. Nicht umsonst sind in den verschiedenen Google-Bewertungen der Ketten von tollen fachkundigen Beratungen die Rede. Die Fachverkäufer können kleine Reparaturen erledigen wie Schrauben oder Pads tauschen, Brillen anpassen oder wieder in ihre ursprüngliche Form biegen oder auch mal ein Glas ein- und aussetzen. Auch die Glasberatung funktioniert ganz simpel: Das System ist so programmiert, dass es anhand der Stärken eine Empfehlung für die Gläser anzeigt. Wie eine App für Pflanzen, die dem Nutzer nach einem Scan die genaue Pflegeanleitung für die jeweilige Art anzeigt. Und welche Gläser am Ende des Tages in der Brille landen, ist den meisten Kundinnen und Kunden sowieso egal, wenn wir ganz ehrlich sind.

Der technische Fortschritt in der Branche macht auch vor der Refraktion nicht halt. War es bis vor der Corona-Pandemie üblich, die Messbrille nebst den Gläsern zu nutzen, hat der gebotene Mindestabstand die Verbreitung von automatischen Messsystemen begünstigt. So kann beispielsweise mit dem Visionix Eye Refract eine Refraktion in unter vier Minuten erfolgen. Mit Hilfe einer KI gesteuerten binokularen Refraktion und einem dualen Aberrometer können schnelle, präzise und zuverlässige Messungen erfolgen. Weiter ist auf der Seite von Visionix zu lesen, dass die Künstliche Intelligenz jeden Mitarbeitenden durch die Refraktion führt und keine Schulung erforderlich sei. Im praktischen Alltag selbst erlebt ist das Gerät für die Masse ausreichend. Schnell gemessen, frei nach dem Motto: wird schon passen. Zu viel Minus, zu viel Zylinder oder der fehlende binokulare Abgleich – geschenkt. Viele Kundinnen und Kunden wissen ihre Dioptrien ohnehin nicht. Aber das ist ein anderes Thema.

Verramschen oder verbessern?

An manchen Tagen frage ich mich, warum ich eine dreijährige Ausbildung und die Meisterprüfung abgelegt habe. Reicht doch eine kurze Einarbeitung, um eine Brille anzupassen und eine halbwegs vernünftige Refraktion durchzuführen. Das wichtigste Ziel für das Geschäft ist erreicht: der Kunde wird bedient, er kauft sich eine Brille. Manchmal kommt er halt ein zweites Mal, um die Brille zu reklamieren oder (wieder) anzupassen. Das Anlernen braucht Zeit – viel Zeit, die im stressigen Alltag nicht immer gegeben ist. So ist die Gefahr groß, dass die Quereinsteiger die eine oder andere falsche Information an die Kundschaft heran tragen. Schließlich kann im vermittelten Basiswissen nicht alles abgedeckt werden. Man muss ihnen zugutehalten: Alle fragen, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. Bei der Refraktion, beim Anpassen oder wenn sie von einem Sachverhalt noch nie etwas gehört haben. So lernen sie jeden Tag etwas Neues über die Optik.

Wohin die nächsten Jahre in der Branche führen, lässt sich nur schwer vorhersagen. Das abgerodete Feld muss heute neu bepflanzt werden, damit es wieder geerntet werden kann. Nicht nur mit Quereinsteigern, sondern mit fachlich gut ausgebildetem Personal. Es darf sich nicht länger anfühlen, als würde unser Beruf durch das unstillbare Wachstum verramscht werden. Wie auf einem Wühltisch, bei dem sich um die besten Stücke gestritten wird, bis es sie zerreisst. Klar ist, dass die Quereinsteiger entlasten. Sie können die Kundschaft beraten und ihnen die Brille anpassen. Dennoch sollte sich der Fokus auf die ausgebildeten und angehenden Augenoptikerinnen und Augenoptiker konzentrieren. Es kann nicht sein, dass einige mehr oder weniger aus dem Laden flüchten. Die Welt der Optik ist viel komplexer und faszinierender, als das man es in wenigen Grundlagen vermitteln kann. Und genau diese Leidenschaft sollten wir in die Welt tragen!